Das Milchzahngebiss
Gebisskontrollen und Zahnbehandlungen schon beim jungen Pferd? Wenn ja, wann und wie oft? Diese Fragen stellen sich Pferdebesitzern und Tierärzten immer wieder. Hartnäckig hält sich der Mythos, dass nur alte Pferde ein behandlungsbedürftiges Gebiss haben – zu Unrecht, wie Sie im Folgenden lesen können.
Die rasante körperliche Entwicklung eines Fohlens erfordert die Aufnahme einer immensen Energiemenge, die in einen für den Magen-Darm-Trakt optimal verwertbaren Zustand gebracht werden muss.
Überzählige oder fehlende Zähne, Überbisse etc. kommen schon bei Fohlen vor, führen zu schlechter Futterverwertung und sollten durch eine fachkundige Untersuchung innerhalb des 1. Lebensjahres frühzeitig erkannt werden.
Die Ernährung der Fohlen, Jährlinge und Zweijährigen besteht häufig bereits aus großen Mengen Krippenfutter. Im Gegensatz zu Raufutter erfolgt dessen Zerkleinerung in weniger zur Seite ausladenden Kaubewegungen. So weist nicht selten schon das Milchgebiss scharfe Backenzahnkanten und Haken auf, die ohne in diesem Alter durchgeführte Untersuchungen oft unentdeckt bleiben.
Auch die Kopf-Halshaltung hat direkten Einfluss auf den Aufbiss und somit auf die Abnutzung der Zahnreihen. Unter natürlichen Bedingungen wird die Nahrung überwiegend vom Boden aufgenommen.
Da während des Kauens häufiger der Kopf gehoben wird, um die Umgebung besser beobachten zu können, verändert sich die Position der Kiefer zueinander nach vorne und hinten. Durch das Fressen aus Raufen und Krippen wird dieses Bewegungsmuster verändert und Hakenbildungen werden begünstigt. Aufgrund der heutigen Haltungsbedingungen nehmen viele Tiere den überwiegenden Teil ihrer Nahrung in unnatürlichen Fresspositionen auf.
Durch regelmäßige Kontrolle und sachgerechte Therapie kann die natürliche Kaubewegung weitgehend erhalten und können Entwicklungsrückstände somit minimiert werden.
Grundlagen des Zahnwechsels
Der Zahnwechsel eines Pferdes beginnt mit ca. 2,5 Jahren und ist meistens mit 5 Jahren abgeschlossen. Im gleichen Zeitraum werden die Tiere an ihre Aufgaben als Reit- oder Fahrpferd herangeführt.
Bei der Betrachtung des natürlichen Ablaufs des Zahnwechsels fällt auf, dass im 1. Jahr, also zwischen 2,5 und 3,5 Jahren, insgesamt 12 Milchbackenzähne und 8 Milchschneidezähne gewechselt werden. Auch der Durchbruch von 4 bleibenden Zähnen fällt in diesen Zeitraum.
Im Alter von 2,5–3,5 Jahren sind bis zu 77% aller an der Nahrungsaufnahme beteiligten Zähne von Wechsel oder Durchbruch betroffen
Einfluss der Lebensumstände
Da die meisten Pferde im Frühjahr geboren werden, fällt der Start des Zahnwechsels in jenem Herbst/Winter, in dem die Tiere ab 1. Januar auf Leistungsprüfungen startberechtigt sind und für die zukünftigen Deckhengste die Körung ansteht.
Auch für den Einsatz im Freizeitbereich vorgesehene Kandidaten beginnen in diesem Winter meist das Training.
Belastung des Immunsystems
Mit dem Trainingsbeginn ist häufig erheblicher Stress verbunden, z. B. durch den Wechsel in einen Ausbildungsstall. Lebensumstände, Fütterung etc. verändern sich und somit auch die Keimflora, der der junge Organismus ausgesetzt ist. Zusätzlich kommt genau zu dieser Zeit der Zahnwechsel ins Spiel.
Kleine Verletzungen in der Maulhöhle, verursacht durch die sich lösenden Milchzahnkappen, führen zu mehr oder weniger heftigen entzündlichen und schmerzhaften Prozessen, die das Wohlbefinden des Tieres beeinträchtigen. Alles zusammen eine immense Aufgabe für das Immunsystem.
Steigender Energiebedarf
Durch die im Kiefer stattfindenden Umbauprozesse und gelockerte Milchzähne wird außerdem die Nahrungszerkleinerung erschwert. Gleichzeitig ist durch den Trainingsbeginn mit einem erhöhten Energiebedarf zu rechnen.
Reduzierte Wasseraufnahme
Vorstellbar ist auch eine verminderte Wasseraufnahme, wenn diese durch im Herbst/Winter deutlich kälteres Wasser im Zusammenhang mit entzündlichen Prozessen in der Maulhöhle, für das Pferd unangenehm wird. Bei Wasserversorgung durch Selbsttränken haben lockere Michschneidezähne möglicherweise einen ähnlichen Effekt, weil hierbei der Wasserfluss mit durch den vorderen Bereich des Pferdemauls ausgeübtem Druck auf das Einflussventil geregelt wird.
Eine unzureichende Nahrungszerkleinerung mit gleichzeitig verminderter Wasseraufnahme hat mit großer Sicherheit erheblichen Einfluss auf Gesundheit, Entwicklung, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit des jugendlichen Pferdes.
Einfluss der Zäumung
Ein wesentlicher Teil der Pferdeausbildung besteht darin, die Tiere an Halfter und Zäumungen zu gewöhnen und ihnen darüber Signale zu geben. Unstrittig ist, dass wegen des Wechsels der ersten Backenzähne der Einsatz eines Gebisses für ein 3-jähriges Pferd sehr unangenehm sein kann. Viele Ausbilder setzen deshalb gebisslose Zäumungen ein.
Aber auch alle anderen gelockerten Milchzähne haben mehr oder weniger starke negative Auswirkungen auf ein komfortables Maulgefühl bei jeder Kiefer- und Zungenbewegung (Maultätigkeit). Dabei spielt die Art der Zäumung nur eine untergeordnete Rolle.
Betrachtet man die Vorgänge beim Zahnwechsel genauer, muss man feststellen, dass sie ausschließlich im Bereich vor der Jochbeinleiste stattfinden. Hier wirken aber alle gebräuchlichen Halfter und Zäumungen mit unterschiedlich starkem Druck ein. Die Oberkieferbackenzähne von Pferden ragen immer seitlich über die Unterkieferbackenzähne. Daher wird durch jedes ausgeübte Signal immer die Backenschleimhaut gegen die äußere Kante der Oberkieferbackenzähne gedrückt. Diese Tatsache ist nicht nur unangenehm für das Pferd, es begünstigt auch, dass kleine Milchzahnstücke im Zahnfleisch stecken bleiben und schmerzhafte Entzündungen hervorrufen.
Das gebisslose Arbeiten der jungen Pferde ist während des Wechsels der vordersten Backenzähne mit etwa 2,5 bis 3 Jahren sicherlich sinnvoll. Zum Zeitpunkt des Wechsels der jeweils zweiten und dritten Backenzähne ist von der unkritischen Nutzung gebissloser Zäumungen, Führketten oder Knotenhalftern abzuraten. Bedenkenlos grober Gebrauch dieser Werkzeuge, wie er leider sehr häufig beobachtet werden kann, kann großen Schaden anrichten.
Fragmente von Milchzahnkappen
Kleine Reste von Milchzahnkappen können an allen gewechselten Zähnen und überall in deren angrenzendem Zahnfleisch verbleiben.
Sie sind leider nicht ganz einfach zu entdecken und rufen, selbst wenn der Zahnwechsel schon lange vorbei ist, schmerzhafte Zahnfleischentzündungen hervor, die Rittigkeitsprobleme verursachen können.
Bumps
Bei vielen Pferden zwischen 2 und 5 Jahren fallen besonders deutlich sichtbare Beulen am Kieferknochens auf. Bumps, Knäste oder Eruptionszysten sind gängige Bezeichnungen für diese Erscheinung.
Durch die Umbauprozesse bei der Bildung des bleibenden Zahns entsteht hier dicht unter der Knochenoberfläche ein besonders empfindlicher Bereich. Der Einsatz von darüber verlaufenden Führketten oder zu starker Druck von Halftern oder Zäumungen aller Art kann negative Auswirkungen auf die Entwicklung des dort entstehenden bleibenden Zahnes haben.
Begleitung des Zahnwechsels durch den Pferdedentalpraktiker nach IGFP
Aus diversen Gründen lässt sich die Kollision von Zahnwechsel und Ausbildungsbeginn in den wenigsten Fällen verhindern. Der Pferdedentalpraktiker nach IGFP wird alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um diese Situation für die jungen Pferde und damit auch für Besitzer, Reiter und Ausbilder zu verbessern.
Hierfür sind regelmäßige und fachmännische Kontrollen der Maulhöhle, die Durchführung notwendiger Behandlungen, Aufklärung der Besitzer, Reiter und Ausbilder über die Vorgänge im Pferdegebiss und deren Beratung über das Vorgehen im Rahmen der Ausbildung unbedingt notwendig.
In zahlreichen Gesprächen mit Menschen, die Pferde ausbilden, haben wir immer wieder erhebliche Defizite bei den Kenntnissen zum Zahnwechsel von Pferden feststellen müssen. Deren Beseitigung wäre ein wertvoller Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität in Ausbildung befindlicher Pferde.
Zeitlicher Untersuchungsrahmen
Geburt
Schon bei der 1. Untersuchung durch den Haustierarzt nach der Geburt wird die Maulhöhle auf das Vorhandensein der Milchbackenzähne untersucht. Angeborene Missbildungen sollten bereits zu diesem Zeitpunkt erfasst werden, da sie schon die ersten Saugversuche und somit den Start ins Pferdeleben erschweren. Frühzeitig durchgeführte Therapien führen in vielen Fällen zu einer wesentlichen Verbesserung der Lebensqualität und Leistungsfähigkeit des betroffenen Tieres.
Fohlen und Jungpferd
Routinemäßig sollte am Ende des 1. Lebensjahres und die folgende am Ende des 2. Lebensjahres vom Pferdedentalpraktiker nach IGFP eine Untersuchung durchgeführt werden. Je nach Untersuchungsergebnis kann unter Berücksichtigung des Entwicklungsstandes und eventuell vorhandener Symptome das Beschleifen des Gebisses bereits notwendig sein.
Sollten Entwicklungsrückstände vorliegen, Auffälligkeiten im Fressverhalten oder gesundheitliche Probleme vorliegen, hat durch Zahnbehandlung optimierte Nahrungszerkleinerung immer einen positiven Einfluss auf die Entwicklung des jungen Pferdes.
Ein korrekt arbeitendes Gebiss trägt zum reibungslosen Ablauf des bald einsetzenden Zahnwechsels bei und ist somit ein wichtiger Beitrag zur Erleichterung der beschriebenen Situation eines Pferdes am Beginn seiner Ausbildung.
Die Kontrolle des Zahnwechsels sollte routinemäßig alle 6 Monate erfolgen bis alle Zähne gewechselt, durchgebrochen und mit ihrem gegenüberliegenden Partner Kontakt haben (üblicherweise bis zum 5./6. Lebensjahr).
Diese Begleitung erfordert gut ausgebildete Fachleute, da sich zu frühes oder zu spätes Eingreifen negativ auf die lebenslange Funktionsfähigkeit auswirken kann.
Vor Trainingsbeginn
Der Check vor Beginn jeder Art des Trainings darf niemals ausgelassen werden!
Zu diesem Zeitpunkt muss unter Sedierung der genaue Status der Wechselvorgänge festgestellt und eventuell verbliebene Milchzahnreste müssen entfernt werden. Der Ausbilder des Pferdes wird über den über den weiteren Verlauf des Zahnwechsels und die daraus zu ziehenden Konsequenzen aufgeklärt.
Hier einige typische Beispiele:
- Bei einem knapp 2,5-jährigen Pferd hat der Backenzahnwechsel noch nicht begonnen, es soll mit der Gewöhnung an die Trense begonnen werden ? Aufklärung über in Kürze beginnenden Wechsel der vordersten Backenzähne mit der Empfehlung, die Gewöhnung an das Gebiss zu verschieben, bis dieser Wechsel stattgefunden hat und das Gebiss auf verbliebene Milchkappenfragmente überprüft worden ist.
- Ein fast 3-jähriger Patient mit abgeschlossenem Wechsel von der beiden mittleren Schneidezähne und der vordersten Backenzähne ? Zurzeit ist nicht mit einem Zahnwechsel zu rechnen. Die nächste Serie beginnt in ca. 4–5 Monaten. Bis dahin kann mit der Grundausbildung begonnen werden (keine gebisslose Zäumung notwendig). Danach muss sehr aufmerksam auf akut auftretende Rittigkeitsprobleme, schlechter Geruch aus dem Maul, Auffälligkeiten bei der Futteraufnahme etc. geachtet werden, da jederzeit mit lockeren Milchzähnen zu rechnen ist.
Zur Einschätzung der Situation kann für Besitzer die Betrachtung der leicht zugänglichen Schneidezähne hilfreich sein. Hier sichtbare Wechselanzeichen lassen auf den meist gleichzeitig stattfindenden Backenzahnwechsel schließen.
Dann sollte das Pferd einige Tage aus dem Training genommen und bei danach fortbestehender Problematik die Maulhöhle zeitnah vom Pferdedentalpraktiker nach IGFP untersucht werden. - Ein knapp 4-jähriges Pferd hat vor kurzem auf im Unterkiefer auf beiden Seiten den dritten Backenzahn gewechselt (das Zahnfleisch ist auf einer Seite noch nicht ganz abgeheilt). Im Oberkiefer sind diese beiden noch nicht gewechselt. Sie sitzen fest und es gibt keine Hinweise auf Störungen im natürlichen Ablauf. ? Aufklärung über zeitnah stattfindenden Wechsel der beiden dritten Backenzähne im Oberkiefer und erneute Kontrolle in 6–8 Wochen. Wenn das Pferd bereits in Ausbildung ist, ist die gleiche Vorgehensweise wie im vorangegangenen Fall zu empfehlen. Für einen Ausbildungsbeginn ist der Zeitpunkt denkbar schlecht und dieser sollte bis auf nach der empfohlenen erneuten Kontrolle verschoben werden.
Die meisten Pferde wechseln die Schneidezähne, die vordersten und die dritten Backenzähne zwischen Oktober und März.
Häufige Befunde rund um den Zahnwechsel
Schon beim Betrachten und Befühlen des Pferdekopfes erhält man wertvolle Hinweise auf den Verlauf des Zahnwechsels.
Bumps (auch: Knäste, Eruptionszysten) fallen als deutlich sichtbare Beulen bei vielen Pferden zwischen 2 und 5 Jahren auf. An dieser Stelle befindet sich die Wurzelspitze des bleibenden Zahns, der zum Zeitpunkt des Zahnwechsels direkt unter der Oberfläche des Kieferknochens unmittelbar liegt. Die Auftreibung entsteht durch komplexe Vorgänge bei der Bildung des bleibenden Zahnes und lässt durch ihr bloßes Vorhandensein nicht zwangsläufig auf eine Störung schließen. Häufig werden Bumps fälschlich als Auswirkung von Verletzungen interpretiert.
Grundsätzlich sind Bumps am Unterkiefer eher sicht- und tastbar als am Oberkiefer, und können besonders bei sehr „edlen“ Pferdeköpfen besorgniserregende Dimensionen erreichen. Sind sie am Oberkiefer unübersehbar, ist dies der Autoren fast immer ein Zeichen von ernst zu nehmenden Komplikationen.
Einseitig deutlich stärker ausgeprägte Bumps sind immer verdächtig und erfordern eine sehr sorgfältige Untersuchung der zugehörigen Zähne und deren Umgebung.
Aber auch wenn ihre Rückbildung verzögert ist oder stagniert, ist das ein Alarmsignal und die Ursachen hierfür müssen unbedingt herausgefunden werden.
Auch tränende Augen können in Verbindung mit dem Zahnwechsel auftreten, wenn der Tränennasengang durch die Zahnentwicklungsvorgänge eingeengt wird oder ein festsitzender Milchzahn den bleibenden Backenzahn am Durchbrechen hindert.
Therapeutische Maßnahmen vor Trainingsbeginn
Extraktion von Milchzahnkappen
Die Extraktion von Milchzahnkappen muss gegebenenfalls in Erwägung gezogen werden, da diese unter bestimmten Umständen eine wesentliche Erleichterung bei der Nahrungsaufnahme sowie beim Einsatz von Halfter und Zäumungen herbeiführt. Allerdings sollte die Extraktion einer fest sitzenden Milchzahnkappe keinesfalls prophylaktisch entfernt werden, um eventuell später entstehenden Rittigkeitsproblemen vorzubeugen!
Ein vorzeitiger Verlust von Milchzähnen kann die Entwicklung des bleibenden Zahnes nachteilig beeinflussen. Als Resultat können Zahndefekte und Stellungsanomalien auftreten.
Extraktion von Wolfszähnen
Kontroverse Diskussionen bestehen zu der Frage, ob Wolfszähne bei Pferden, die mit Gebiss gearbeitet werden sollen, grundsätzlich entfernt werden sollen.
Durch eigene Erfahrungen sowohl als Reiter und Ausbilder von Reitern und Pferden, als auch als Tierärzte mit Arbeitsschwerpunkt Pferdezahnbehandlung und Erfahrungsaustausch mit weltweit auf diesem Gebiet tätigen Kollegen, sind wir große Befürworter der Extraktion von Wolfszähnen.
Die offensichtlich durch Wolfzähne hervorgerufenen Rittigkeitsprobleme und die potentiell damit verbundene Gefährdung von Reitern rechtfertigen in unseren Augen die geringen Risiken einer Extraktion.
Schlussfolgerungen
Eine konsequent durchgeführte zahnmedizinische Begleitung von Fohlen und jungen Pferden durch einen auf diesem Spezialgebiet versierten Fachmann ist ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung einer gesunden und leistungsbereiten Pferdepopulation.
Zur Entscheidung über zu ergreifende Therapiemaßnahmen gehören aber auch die Betrachtung der individuellen Lebensumstände des jeweiligen Tieres, Aufklärung von Besitzern und Trainern über die Auswirkungen der jeweiligen Entwicklungsstadien im Pferdegebiss und Beratung zu möglichen Maßnahmen, diese schwierige Entwicklungsphase möglichst gut zu überstehen.